Was ist mit Mama Hase los?

ME/CFS und die Auswirkungen kindgerecht erklärt
Diese Geschichte ist inspiriert von meinen beiden Enkelkindern Charlie und Alice. Die beiden haben lange Zeit nicht verstanden, warum ihre Oma nicht mehr so wie früher mit ihnen spielt und sie so selten besucht. Es fiel schwer, die richtigen Worte zu finden um ME/CFS kindgerecht und nachvollziehbar zu beschreiben ohne sich in allen Details zu verlieren. Einfach zu erklären, welche Auswirkungen die Erkrankung im täglichen Familienleben hat. Daher habe ich mich im Sinne der Verständlichkeit dieser Multisystemerkrankung bei der Beschreibung der Symptome ganz bewusst auf Erschöpfung, Schmerzen und Geräuschempfindlichkeit beschränkt.
Mit dieser Geschichte möchte ich betroffenen Menschen etwas an die Hand geben, das sie ihren Kindern oder Enkeln vorlesen (lassen) können. Das ihren eigenen Zustand oder den eines anderen Angehörigen oder Freundes so beschreibt, dass Kinder es einigermaßen verstehen können. Und dass sie die Zurückhaltung bzw. den Rückzug der Erwachsenen nicht auf sich selbst sondern auf die Erkrankung beziehen.
Vielleicht erkennt sich auch das eine oder andere Kind selber darin und kann anhand dieser Geschichte sein eigenes Empfinden, seine eigenen Symptome in Worte fassen oder die Erwachsenen darauf hinweisen. Und vielleicht kann damit das eine oder andere „Stell Dich nicht so an!“ verhindert werden?!
Die Geschichte gibt es auch als PDF im DIN A5-Format und mit großer Schrift (Das PDF darf gerne heruntergeladen und geteilt werden!):
Zudem ist sie als Audioversion hier sowie bei Spotify und Apple Podcast verfügbar.
Was ist mit Mama Hase los?
Bis vor ein paar Monaten war Familie Hase eine ganz normale Hasenfamilie: Papa Hase war Möhrenbauer und verdiente damit das Geld für die Familie. Mama Hase kümmerte sich um die beiden Hasenkinder Franz und Luise und den Haushalt. Sie backte Kuchen und Kekse, kochte, strickte und bastelte mit ihren Kindern. Alles Dinge, die Mamas eben so machen.

Zusätzlich sang sie im Hasenchor und ging einmal in der Woche mit ihren Hasen-Freundinnen zum Hasensport. Wie gesagt: Eine ganz normale Familie. Doch dann bekam die ganze Hasenfamilie eine grässliche Grippe. Fast zwei Wochen lagen sie mit hohem Fieber im Bett.
Außerdem hatten sie Halsweh, Husten, Schnupfen und ihre Arme und Beine taten schrecklich weh. Es dauerte drei lange Wochen, bis sie wieder gesund waren. Dann konnte Papa Hase wieder arbeiten gehen und die Kinder freuten sich auf ihre Schulkameraden. Das alte Leben ging genauso weiter wie bisher - nur nicht für Mama Hase.
Sie wurde und wurde nicht wieder richtig gesund. Sie fühlte sich immer schlapp und müde und konnte auch nach 8 Wochen nur ein paar Stunden am Tag aufstehen. Zum Chor oder zum Sport ging sie gar nicht mehr. Und wenn die Kinder mit ihr spielen wollten, fiel es ihr schwer, vom Sofa aufzustehen.
Mama Hase hätte so gerne den ganzen Tag mit ihren Kindern gespielt, aber sie hatte einfach nur Kraft für ein paar Minuten. Dann musste sie sich wieder hinlegen und ausruhen. Sie war so traurig, dass sie ihre Kinder immer wieder enttäuschen musste.
Auch die Kinder waren traurig, denn sie hatten immer so gerne mit ihrer Mama gespielt! Papa Hase verstand gar nicht, warum Mama Hase nicht wieder gesund wird. Er wurde sogar langsam ungeduldig. Schließlich musste er sich nun neben der Arbeit auch noch um den ganzen Haushalt kümmern. Er musste Kochen, Waschen, Putzen und Einkaufen.
Und er musste ja auch noch für seine Hasenkinder sorgen. Deshalb ging er mit Mama Hase am nächsten Tag zum Doktor. Der Doktor horchte auf Mama Hases Herz und klopfte auf ihren Bauch. Er überlegte eine Weile und sagte dann voller Freude:
„Frau Hase, Sie sind gesund! Ich habe keine Krankheit gefunden. Sie müssen nach der Grippe einfach nur wieder Kraft bekommen. Am besten, Sie gehen jeden Tag eine große Runde an der frischen Luft spazieren! Dann sind Sie bestimmt ganz schnell wieder fit!“
Und Mama Hase tat genau das: Sie ging jeden Tag eine große Runde spazieren. Doch statt besser, ging es ihr jeden Tag schlechter. Irgendwann konnte sie das Bett fast gar nicht mehr verlassen. Und weder Möhrensuppe noch Möhrenkuchen gaben ihr mehr Kraft.
So verging Monat um Monat und Mama Hase wurde immer schlapper. Franz und Luise verstanden gar nicht, warum ihre Mama nun so anders war. Sie spielte gar nicht mehr mit ihnen, backte nicht mehr ihren berühmten Karottenkuchen. Sie ging auch gar nicht mehr aus dem Haus. Die meiste Zeit des Tages war sie so schlapp, dass sie im Bett liegen musste.
Immer sagte sie, dass sie müde ist und sie sich ausruhen muss. Zudem klagte sie, dass ihr alles weh tut. „Kann einem wirklich alles wehtun?“, fragten sich die Kinder. Und dauernd mahnte Mama Hase sie leise zu sein. Warum nur? Früher durften sie doch auch so laut spielen, wie sie wollten und da hatte Mama Hase nie geschimpft?!
Als es Mama Hase auch nach 6 langen Monaten nicht besser ging, machten sich Franz und Luise große Sorgen. Sie baten ihren Vater endlich etwas zu unternehmen. Gemeinsam suchten sie in Papa Hases Computer nach dem besten Hasen-Doktor der Welt. Nach langem Suchen fanden sie ihn dann: Professor Langohr.

Sie schrieben ihm einen dicken Brief. Darin erzählten sie, wie schlecht es ihrer Mama ging und baten ihn um Hilfe. Schon bald darauf antwortete Professor Langohr und sie machten einen Freudentanz: Professor Langohr wollte ihnen und ihrer Mama helfen.
Eine Woche später klingelte es an der Tür. Ein freundlich blickender Hase im blauen Anzug stand davor. Professor Langohr sah genauso aus, wie man sich den besten Hasen-Doktor der Welt vorstellt: Er hatte einen kugelrunden Bauch und eine kleine runde Brille auf der Nase. Außerdem trug er eine große schwarze Tasche bei sich.

Er betrat das Haus und sie tranken erst einmal einen leckeren Möhrensaft zur Begrüßung. Weil es Mama Hase so schlecht ging, war sie nicht dabei. Sie lag in ihrem Zimmer und hatte die Vorhänge zugezogen und hatte einen Kopfhörer auf ihren langen Hasenohren. Es war kein guter Tag!
Nachdem er ausgetrunken hatte, ging der Professor zu Mama Hase und untersuchte sie gründlich. Wie der erste Doktor horchte auch er auf ihr Herz und klopfte auf ihren Bauch. Aber er maß auch nach wieviel Kraft sie hat und schaute sich ihr Blut an. Eine Stunde später kam Professor Langohr zu Papa Hase und den Kindern in die Küche.
Er setzte sich zu ihnen und begann eine lange komplizierte Erklärung. Auch viele Monate später erinnerten sich die Kinder an diese Worte: „Eure Mama hat eine ganz gemeine Erkrankung. Diese hat einen ganz komplizierten Namen und viele unaussprechliche Abkürzungen. Sie heißt ME/CFS, was ausgesprochen Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom heißt.“, sagte er.
Dann erklärte ihnen Professor Langohr, dass Mama Hases Körper jeden Tag nur ein ganz kleines bisschen Kraft hat. Manchmal reiche ihre Kraft gerade mal zum Essen und Zähneputzen: Das sei dann wie bei einem kaputten Handyakku.

Der braucht auch ganz, ganz lange, um ein kleines bisschen aufzuladen und ist viel schneller als normal wieder leer. Aber voll aufladen kann man den Akku nicht mehr, schließlich ist er ja kaputt. Als nächstes sagte der schlaue Professor:
„Bei Eurer Mama ist das auch so: Spielt sie nur ein klitzekleines bisschen zu lange mit Euch, ist ihr Akku ganz schnell leer. Sie muss sich danach ganz lange ausruhen. Und es kann auch sein, dass Ihr ganz leise sein müsst. Denn Eure Mama hat Schmerzen und verträgt keinen Lärm.“ Er erklärte ihnen, dass viele sonst normale Dinge bei ihrer Mama nun dazu führen können, dass es ihr für einige Zeit schlechter geht.
Dazu gehören, neben zu langem Spielen mit den Kindern, zum Beispiel laute Geräusche, zu langes Lesen oder auch eine zu lange Unterhaltung. Dann fügte er noch hinzu: „Eure Mama kann sich aber helfen! Sie soll ‚Pacing‘ machen“. Papa Hase grummelte: „Was ist das denn für eine komische Idee?“.
Professor Langohr erklärte: „Pacing bedeutet, dass man sich die wenige Kraft seines Akkus ganz genau einteilt und zwischendurch viel ausruht.“ Das bedeute, sie spielt zum Beispiel nur so viel mit den Kindern, dass es ihr danach nicht schlechter geht. Dazu gab er Mama Hase ein Buch, das Pacing erklärt.

Wenn sie dieses Buch liest, weiß Mama Hase genau, wie das geht. Und noch etwas erklärte Professor Langohr: „Das Rätsel wie man ME/CFS heilen oder behandeln kann, haben die Hasenforscher bisher noch nicht gelöst. Deshalb verhindert im Augenblick nur Pacing, dass es Eurer Mama immer weiter schlechter geht.“
Mama Hase freute sich, dass sie nun endlich wusste, welche Krankheit sie hat. Vor allem aber war sie glücklich, dass ihr der Professor gesagt hat, was sie selber tun konnte. Gemeinsam mit Papa Hase, Franz und Luise machte sie einen Plan, wie alle mithelfen und Mama beim Pacing unterstützen können. Sie wussten nun auch, dass es ihr schlechter geht, wenn es zu laut im Haus war.
Daher versprachen sie, dass sie ganz viel Rücksicht nehmen und immer leise sein würden. Von nun an ging Mama Hase auch nicht mehr spazieren. In den nächsten Monaten machte sie dafür jeden Tag nach allem, was sie tat eine kleine oder größere Pause und ruhte sich gut aus.
Tatsächlich half das Pacing und lud Mama Hases Akku wieder ein bisschen mehr auf. Das Tolle war: An manchen Tagen ging es Mama Hase sogar ein klitzekleines bisschen besser als sonst. Fast waren es Tage wie früher. Natürlich war sie damit nicht gesund. Im Gegenteil: Sie musste an diesen besseren Tagen ganz besonders gut auf sich aufpassen.
Aber für einen ganz kurzen Ausflug mit ihrer kleinen Familie in den nahen Igelpark reichte ihr Akku. Selbstverständlich musste sie danach und in den nächsten Tagen auch noch viele lange Pausen machen und sich gut ausruhen.
Familie Hase weiß nun, dass ihr Leben von nun an anders sein wird. Und zwar so lange, bis irgendwann einmal eine Medizin für diese Krankheit gefunden ist und Mama Hase wieder gesund wird. Natürlich hoffen alle, dass das hoffentlich schon sehr bald ist!
ENDE
Ihr möchtet den Post kommentieren? Die Kommentarfunktion ist nur im Mitgliederbereich freigeschaltet. Über den Button „Subscribe“ könnt Ihr Euch dort registrieren und bekommt eine Nachricht bei neuen Posts. Über den Button „Sign in“ meldet Ihr Euch im Mitgliederbereich an und könnt kommentieren und liken. Ich freue mich auf Eure Kommentare!